Interview – Digitalisierung und neue Arbeitswelt

Entgrenzung, Vereinsamung oder Kontrollverlust – wie verändert die Digitalisierung unsere Arbeitswelt wirklich? Der Arbeitspsychologe Christian Korunka erklärt im Interview zur Semesterfrage der Uni Wien, welche Grundbedürfnisse Arbeit auch in Zukunft erfüllen sollte und wer am Ende die Kontrolle behält.  

uni:view: Herr Prof. Korunka, was ist Ihre Antwort auf unsere aktuelle Semesterfrage: Wie leben wir in der digitalen Zukunft?
Christian Korunka: Die digitale Zukunft birgt einerseits großes Potenzial für Verbesserung und andrerseits auch neue Risiken. In der Wissenschaft beispielsweise hat der Forscher oder die Forscherin in der Zukunft zwar den perfekten Zugang zu Informationen, muss in keine Bibliothek mehr gehen oder Tagungen besuchen, was den ökologischen Fußabtritt verkleinert. Auf der anderen Seite besteht das Risiko der Informationsüberflutung und der Oberflächlichkeit in der Informationsverarbeitung.
Was meinen eigenen Forschungsschwerpunkt, die Arbeitswelt, betrifft: Hier wird sich weniger ändern als gedacht, denn die grundlegenden Bedürfnisse, die Arbeit zu erfüllen hat, werden auch in Zukunft gleich bleiben.

uni:view: Welche Bedürfnisse sind das?
Korunka: Es gibt ein psychologisches Bestandswissen darüber, wie „gut“ oder wie „schlecht“ Arbeit ist. Damit kann man, unabhängig von Zeit und Gesellschaft, Arbeit weitgehend stabil bewerten. Arbeit sollte – neben der Sicherung des Überlebens im Sinne von Bezahlung usw. – dem Individuum erlauben, seine Kompetenzen einzusetzen. Menschen sind per se neugierig, wollen sich weiterentwickeln und ihr Wissen anwenden. Diese Bedürfnisse kann Arbeit befriedigen, mal mehr und mal weniger. Auch soziale Beziehungen sind wichtig. Die Arbeitswelt ist ein sozialer Rahmen, der z.B. mit „New Office“-Konzepten neu gestaltet werden kann, aber das Grundbedürfnis dahinter bleibt stets dasselbe.

uni:view: Führt die zunehmende virtuelle Kommunikation – auch in der Arbeitswelt – nicht zur sozialen Vereinsamung?
Korunka: Wir bleiben dank technischer Möglichkeiten besser miteinander in Verbindung, doch die Frage, welche qualitative Veränderung von sozialen Beziehungen das mit sich bringt, ist durch die Forschung noch nicht ausreichend beantwortet. Gut belegt ist hingegen das Risiko der Vereinsamung bei Telearbeit – auch in dem Sinne, dass TeleworkerInnen in die Entwicklungen eines Unternehmens oft nicht mehr direkt eingebunden sind oder bei Karriereentscheidungen das Nachsehen haben.

uni:view: Zurück zu den Grundbedürfnissen. Wird die Arbeit der Zukunft diese noch befriedigen können?
Korunka: Neben der persönlichen Weiterentwicklung und sozialen Faktoren gibt es auch das Bedürfnis nach Autonomie sowie nach Sicherheit und Stabilität. Doch vieles, was in der Arbeitswelt derzeit passiert, läuft dem Sicherheitsbedürfnis entgegen: Es gibt immer weniger dauerhafte bzw. gesicherte Anstellungen und durch die Digitalisierung kann es sogar zu einer Überforderung durch zu große Autonomie kommen.

uni:view: Andererseits gibt es den Trend der „Gig Economy“ (Anm.: siehe Infokasten), was eigentlich mehr Selbstständigkeit bedeutet …
Korunka: Auch hier gibt es zwei Seiten: Eine unternehmerische Gesellschaft per se ist nicht unbedingt schlecht – jeder hat die Möglichkeit, sich im Rahmen seiner Kompetenzen selbstständig zu verwirklichen. Problematisch wird es, wenn die Gig Economy mit prekären Arbeitsbedingungen, Unsicherheit und mit dem Zwang, sich auf diese Weise das Überleben zu sichern, einhergeht.

Gig Economy:
In einer Art „erzwungenen“ Freiberuflichkeit kann jeder/jede seine/ihre Fähigkeiten online anbieten, ist dabei aber von Web-Plattformen wie Uber abhängig. Im englischen Sprachgebrauch wurde für eine solche Arbeitswelt der Begriff „gig economy“ geprägt. Gigs sind kurzzeitige Engagements von MusikerInnen, wo die prekäre Unsicherheit Normalität ist.

uni:view: Wie verändert Digitalisierung die Arbeitswelt?
Korunka: Wenn man aus der Geschichte auf die Zukunft schließt: dramatisch. Je nachdem, wie man Digitalisierung definiert, sind heute 80 bis 100 Prozent aller Arbeitsplätze in irgendeiner Form „digitalisiert“. Schon jetzt sind zwei große Trends erkennbar: einerseits die „Entgrenzung“ der Arbeit, insbesondere im Bereich der Dienstleistungen, wonach es die Digitalisierung ermöglicht, zu jeder Zeit und an jedem Platz der Welt zu arbeiten. Und im Bereich der Produktion die „Industrie 4.0“, die im Extremfall bedeuten kann, dass es nur noch wenige hochqualifizierte arbeitende Menschen braucht.

Industrie 4.0:
Der Begriff geht auf die Forschungsunion der deutschen Bundesregierung und ein gleichnamiges Projekt in der Hightech-Strategie der Bundesregierung zurück. Die erste industrielle Revolution gelang durch die Mechanisierung mit Wasser- und Dampfkraft, die zweite durch die Massenfertigung am Fließband, die dritte – digitale Revolution – durch den Einsatz von Elektronik, die vierte soll durch vernetzte, selbstlernende Maschinen möglich werden: Durch die Verzahnung industrieller Produktion mit modernster Informations- und Kommunikationstechnik.

uni:view: Und wie beeinflusst die Digitalisierung die Qualität der Arbeit?
Korunka: Digitalisierung wirkt sich – vor allem im Zusammenhang mit der zeitlichen und örtlichen Entgrenzung – sicherlich positiv aus: Kooperationen über örtliche Grenzen hinweg und ein einfacher Zugang zu Information sind möglich. Andererseits ist eine Informationsverflachung zu beobachten: Wissen wir etwas nicht, wird es einfach gegoogelt – eine Minute später ist die Information aber bereits wieder vergessen.

In der Arbeitspsychologie ist auch die Frage der Arbeits-Unterbrechungen ein Thema. Wir wissen, dass sie ein massiver Stressor sind, der enorm zugenommen hat. Klassische Unterbrechungen sind z.B. E-Mails, die immer wieder aufpoppen, aber zum Teil auch die Systemwartezeiten.

uni:view: Wird die Digitalisierung in 30 Jahren jeden zweiten Job verschwinden lassen und die Arbeitslosigkeit in die Höhe treiben?
Korunka: Ich beschäftige mich von der psychologischen Seite her mit dem arbeitenden Individuum, mit Kompetenzen, Belastungen und Herausforderungen. Davon gesellschaftliche Trends herzuleiten, ist schwer. Arbeitslosigkeit ist natürlich ausgesprochen problematisch – gesellschaftlich und psychologisch –, aber eine konkrete Zahl zu nennen, wäre unseriös. Es gibt zahlreiche Hinweise auf eine schleichend zunehmende Arbeitslosigkeit, die aber auch mit Wirtschaftskrisen zu tun hat. Auf der anderen Seite kann es auch gegenläufige Tendenzen geben, z.B. aufgrund der Arbeitszeitverkürzung. Es spielen zu viele – teilweise noch unbekannte – Faktoren hinein, um sagen zu können, wie es in 30 Jahren sein wird.

uni:view: Welche Trends lassen sich hingegen wissenschaftlich belegen?
Korunka: Dinge, die uns früher gestört haben, nehmen wir heute einfach an. Beispiel Datensicherheit: Für Spiele wie „Pokémon GO“ geben wir unglaublich viele persönliche Daten bewusst frei. Auch haben wir mittlerweile kein Problem mehr damit, dass Facebook mehr über uns weiß als unsere besten FreundInnen. Ob das gefährlich ist oder nicht, hängt letztlich von den politischen Rahmenbedingungen ab. In Hinblick auf die derzeitige Entwicklung in einigen Ländern würde ich eher Ersteres sagen.

Aber nicht nur im privaten Bereich haben wir quasi die „Kontrolle“ abgegeben: Dank GPS kann die Chefin eines Lieferservices oder Logistik-Unternehmens auf den Meter genau nachverfolgen, wo ihre Angestellten gerade sind. Im Bereich der Pflegedienstleistungen wird über eine App kontrolliert, dass die PflegerInnen sich nicht länger als die vorgeschriebenen Arbeitsminuten bei den einzelnen PatientInnen aufhalten. Einerseits führt das zu einer Optimierung der Arbeitsprozesse, anderseits kommt dadurch z.B. die persönliche Beziehung zu den PatientInnen zu kurz. Während es aber vor 20 Jahren einen großen Aufschrei bezüglich kontrollierter Zugangssysteme gab, haben wir heute kein Problem mehr damit – obwohl die Kontrolle viel weiter geht.

uni:view: Warum lassen wir uns die Kontrolle so leicht abnehmen? Wie erklären Sie das aus psychologischer Sicht?
Korunka: Vermutlich spielt hier ein längerer Lernprozess eine große Rolle. Mit der Entwicklung der Informationstechnologien haben wir in den letzten Jahrzehnten die Kontrolle schleichend abgegeben, und in den meisten Fällen (noch) keine schlechte Erfahrung damit gemacht, während die positiven Seiten der neuen Anwendungen – z.B. Facebook – dominieren.

uni:view: Stichwort Pflege: Ein Thema ist der Einsatz von Pflege-Robotern. Werden PflegerInnen in Zukunft durch Maschinen ersetzt?
Korunka: Einige Arbeitsplätze werden sicher ganz verschwinden und durch intelligente Systeme abgelöst werden, wie z.B. die Arbeit im Callcenter. Aber in Jobs, wo eine persönliche Beziehung wichtig ist, wie in der Altenpflege oder bei der Arbeit mit Kindern, sind Roboter meiner Meinung nach nur begrenzt einsetzbar. In solchen Berufsfeldern würde ich daher eher die Konstanten sehen und den technischen Möglichkeiten kritisch gegenüber stehen. Persönliche Kontakte und Beziehungen können und sollen nicht vollständig ersetzt werden.

uni:view: Wie stellen Sie sich das Büro der Zukunft vor?
Korunka: Als „Flexible Office“, auch „Activity Based Working“ genannt: Das sind Büro-Konzepte mit unterschiedlichen Arbeitsplatz-Szenarien. Es ist eine Art von Rückkehr des alten Großraumbüros, aber mit unterschiedlichen Arbeitszonen und in ganz anderer Form aufbereitet. Dieses „Büro der Zukunft“ gibt es bereits in den meisten großen Unternehmen. Jeder arbeitet – mit Smartphone und Laptop ausgestattet – in der Zone, die ihm gerade gut tut. Es gibt keine fixen Arbeitsplätze. Wir wissen aus Studien, dass dieses Konzept – wenn es richtig umgesetzt ist – gut funktioniert.

In einer Serie von Einzelstudien im Rahmen des fünfjährigen FWF-Projekts „Arbeit im Wandel“ untersuchten Christian Korunka und sein Team an der Universität Wien die Anforderungen der modernen Arbeitswelt, wobei der Arbeitspsychologe im Wesentlichen drei identifiziert hat: Erstens die Arbeitsintensivierung, Arbeit wird heute als intensiver und belastender wahrgenommen. Zweitens die Zunahme von Autonomie, einerseits eine positive Entwicklung, anderseits bedeutet Autonomie auch mehr Verantwortung, was zu weiteren Anforderungen führt. Die dritte Anforderung betrifft den Bereich der Zunahme der erforderlichen Kompetenzen. „Uns geht es darum, den jeweiligen Punkt zu bestimmen, wann etwas vom Positiven ins Negative übergeht bzw. wann das Individuum an seine Grenzen stößt“, erklärt der Forscher.

uni:view: Welche Kompetenzen sollten sich ArbeitnehmerInnen aneignen, um für die Zukunft gerüstet zu sein?
Korunka: Es gibt eine neue Form von „Analphabetismus“ durch den Einsatz von IT: Man glaubt, sich auszukennen, weiß aber nur oberflächlich – z.B. mit dem Smartphone – umzugehen und nicht mit der Technik, die dahinter steht. Dieser Mangel an IT-Kompetenz hat in den letzten Jahren zugenommen – auch unter den sogenannten „Digital Natives“. Auf dieser Ebene gilt es Kompetenzen aufzubauen – v.a. in Hinblick der Datensicherheit, aber auch im Bereich der digitalen Kommunikation.

uni:view: Verlernen wir durch die Digitalisierung das selbständige Denken?
Korunka: Diese Vermutung wird in der allgemeinen und kognitiven Psychologie durchaus untersucht. Da uns die „Maschinen“ das Denken abnehmen, kommt es zu einer Verflachung der Informationsverarbeitung. So fährt jemand mit dem Auto über eine Treppe, nur weil es das Navi sagt, oder Jugendliche jagen in U-Bahnschächten nach Pokémons.

uni:view: Gibt in der Fabrik der Zukunft der Mensch oder die Maschine den Takt vor?
Korunka: Als Psychologe würde ich sagen, dass letztlich der Mensch die Kontrolle behält – wenn auch nicht zur Gänze.

uni:view: Danke für das Gespräch! (ps)

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